Ãœbergewicht - Das Wichtigste aus der Medizin
Dienstag, den 07. Oktober 2008 um 11:29 Uhr
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Das Wichtigste aus der MedizinVor allem Mädchen wollen nicht nur nicht übergewichtig sein – sie wollen eine Modelfigur haben. Und damit sind sie schon ein ganzes Stück von gesundheitlich vernünftigen Zielen entfernt. Denn entgegen landläufiger Meinung sind schlanke Frauen nicht gesünder als solche mit ein paar Kilo mehr am Leib. Und der mit dem zwanghaften Abnehmenwollen verbundene Dauerstreit mit dem Körper hat handfeste Nachteile: seelischen Stress, vermindertes Wohlbefinden und – leider ein Riesenproblem unter Jugendlichen, die meinen, das Abnehmen sonst nicht zu schaffen – nicht selten auch Abhängigkeit von Nikotin.
[ISPI]Rein statistisch ist der Zusammenhang eindeutig: Ãœbergewichtige Kinder bewegen sich nicht nur durchs Leben »wie Reisende mit zu viel Gepäck«, also mühsam und unbequem – sie steuern mit ihrem Gepäck auch auf Gesundheitsgefahren zu: Fast alle »Zivilisationskrankheiten« stehen statistisch mit Ãœbergewicht im Zusammenhang. Ãœbergewicht selbst ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs und für sich selbst genommen weitaus weniger bedrohlich als das, was (meist) zugrunde liegt: Bewegungsmangel und Fehlernährung. Erst allmählich erkennt die Medizin, wie gefährlich diese beiden »Initialzünder des Ãœbergewichts« für den Stoffwechsel sind – und zwar selbst dann, wenn das Körpergewicht noch normal ist. So haben fitte Dicke ein eindeutig geringeres Krankheitsrisiko als unfitte Schlanke.
»Ãœbergewichtig« – ab wann?Ob ein Kind nur »kräftig«, »ein bisschen mollig« oder wirklich zu dick ist, hier sind sich Eltern und Verwandte oft nicht ganz einig. Aber auch Ärzte können im Einzelfall oft nicht sagen, ab wann das Gewicht ein medizinisches Problem darstellt, d. h. gesundheitliche Nachteile mit sich bringt. »Ãœber«gewicht ist deshalb letzten Endes eine willkürliche Festlegung. Mediziner treffen sie folgendermaßen:
Ãœbergewicht – schon bei Säuglingen?Insbesondere voll gestillte Kinder wachsen in den ersten 4–6 Lebensmonaten oft »Ã¼ber die Kurve hinaus«, kehren im zweiten Lebenshalbjahr aber üblicherweise wieder in den Normalbereich zurück. Das ist normal, und insgesamt haben gestillte Kinder später sogar seltener Gewichtsprobleme als nichtgestillte Kinder. Auch der »Babyspeck« im Krabbelalter ist normal und noch kein Vorbote späterer Gewichtsprobleme. Er wächst sich aus, wenn das Kind laufen lernt. Allerdings gelten zwei Einschränkungen: Erstens: Auch schon Säuglinge können »wirklich« übergewichtig sein, dann nämlich, wenn sich ihr Gewicht auch im zweiten Lebenshalbjahr beständig oberhalb der 97. Perzentile auf der Gewichtskurve bewegt. Die Ursache ist zumeist Ãœberfütterung – die Eltern dieser Kinder reagieren auf Unmutsäußerungen ihrer Kinder zu häufig mit der Flasche oder überlassen dem älteren Säugling die Flasche zur »Selbstfütterung«. Dahinter steckt keine böse Absicht – oft übertragen Eltern lediglich ihr eigenes (ungünstiges) Essverhalten auf ihre Kinder. Es ist also nicht verwunderlich, dass Ãœbergewicht im Säuglingsalter vor allem Kinder übergewichtiger Eltern betrifft. Zum Zweiten: Die Röllchen des Babyspecks wachsen sich nur aus, wenn das Baby auch verhaltensmäßig zum Kleinkind »aufsteigen« kann, also aktiv sein darf und sich als Kleinkind ernähren darf. Wird das Kleinkind weiter wie ein Säugling ernährt (sofortige Bedürfnisbefriedigung, kein Warten auf Mahlzeiten, viel Süßes) oder darf es seinem Bewegungsdrang nicht ausreichend nachgeben, so bleibt der Speck. Die Forschung zeigt, dass der heute schon bei Kleinkindern zu beobachtende Gewichtszuwachs vor allem durch zunehmenden Bewegungsmangel bedingt ist. Und das ist keine gute Nachricht. Denn je länger der Speck im Kleinkindalter und danach bestehen bleibt, desto wahrscheinlicher begleitet er das Kind ein ganzes Leben lang. Immerhin 33 % der übergewichtigen 3- bis 5-Jährigen sind später auch als Erwachsene übergewichtig, unter den übergewichtigen 6- bis 9-Jährigen sind es gar 55 %. In beiden Altersgruppen steigt diese Zahl auf 80 %, wenn mindestens ein Elternteil übergewichtig ist! Die Wahrscheinlichkeit, überzählige Kilos zu verlieren, sinkt mit fortschreitender Pubertät noch weiter ab, denn jetzt kann kein Wachstumsschub die fülligen Kinder mehr »in die Länge ziehen«. Ãœberschüssige Pfunde – woher?»Die« Ursache für Ãœbergewicht gibt es nicht. Bei den meisten übergewichtigen Kindern treffen mehrere ungünstige Umstände zusammen und führen in ihrer Kombination zum Ãœbergewicht (mehr zu Ãœbergewicht bei Kindern). Unzweifelhaft spielt beim Ãœbergewicht eine erbliche Veranlagung eine Rolle. Das eine Kind ist von Natur aus schmal, das andere stämmiger. Dass es bessere und schlechtere »Futterverwerter« gibt, ist auch wissenschaftlich inzwischen unbestritten. Aber auch die Umwelt und das Verhalten spielen eine entscheidende Rolle. Dazu gehört das Essverhalten in der Familie, d. h. wie viel und was gegessen, bzw. nicht gegessen wird. Kommen häufig sehr reichhaltige, fette Speisen auf den Tisch oder wird vor allem Fastfood außer Haus verzehrt, ist das Risiko, übergewichtig zu werden, fünfmal größer als in einem Haushalt, in dem regelmäßig ein ausgewogenes Essen gekocht wird. Genauso entscheidend wie die Kalorienaufnahme ist jedoch der Kalorienverbrauch durch Bewegung: Kinder, die sich viel bewegen, werden seltener dick. Umgekehrt haben z. B. Kinder, die täglich fünf Stunden vor dem Fernseher verbringen, ein über 8fach gesteigertes Risiko für Ãœbergewicht. Und leider gehört Bewegung für viele Kinder heute nicht mehr zum regulären Alltagsprogramm. Psychologische Faktoren können bei der Entstehung von Ãœbergewicht eine Rolle spielen, sie sollten aber nicht überschätzt werden. Das heißt nicht, dass Nahrung nicht viel zu häufig als Belohnungs-, Tröstungs- und Verwöhnungsinstrument missbraucht wird – bei manchen Kindern sind die überflüssigen Pfunde tatsächlich »Kummerspeck«. Dennoch sind dicke Kinder insgesamt nicht psychisch labiler als dünne Kinder. Gene oder Umwelt?Dicke Kinder haben häufig auch dicke Eltern. Dies kann als Beweis dafür gewertet werden, dass Ãœbergewicht erblich bedingt ist. Dass dies nur die halbe Wahrheit ist zeigte ein findiger Forscher: Er untersuchte das Gewicht der Haustiere in »dicken« und »dünnen« Familien. Und siehe da: Die Haustiere in Familien mit Gewichtsproblemen waren ebenfalls häufiger übergewichtig! Erbliche Veranlagung und Umwelteinflüsse wirken also oft im Wechselspiel miteinander. Extrem selten: HormonstörungenSehr selten ist Ãœbergewicht wirklich durch eine hormonelle Störung bedingt. Hier sind vor allem die Schilddrüsenunterfunktion und die Nebennierenrindenüberfunktion zu erwähnen. Bei der Nebennierenrindenüberfunktion wird zu viel Kortison gebildet, das die Fetteinlagerung vor allem am Körperstamm fördert. Oft nimmt das Kind dabei recht rasch zu (»Sie war früher immer schlank und hat in den letzten Monaten so zugenommen«), es hat ein rundes, oft gerötetes Gesicht, verhältnismäßig schlanke Arme und Beine und möglicherweise Akne sowie an Schwangerschaftsstreifen erinnernde Hautstreifen. Im Gegensatz zu den auch bei den »normalen« (nicht hormonell bedingten) Formen des Ãœbergewichts zu beobachtenden Hautstreifen sind die Hautstreifen bei Nebennierenrindenüberfunktion rot. Die Haut ist außerdem dünn und heilt nach Verletzungen schlecht. Auch manche erblich bedingten Erkrankungen führen nicht nur zu Fehlbildungen, sondern auch zu Ãœbergewicht. Meist werden diese Formen jedoch schon früher in der Kindheit aufgrund der weiteren Auffälligkeiten und nicht erst bei Abklärung des Ãœbergewichts festgestellt. Als häufigste Ursache ist hier das Prader-Willi-Syndrom zu nennen, das bei ungefähr einem von 15000 Kindern auftritt und durch gleichzeitigen Kleinwuchs sowie geistige Behinderung auffällt.
Aktualisiert ( Donnerstag, den 29. Januar 2015 um 13:15 Uhr )
© Herbert Renz-Polster et. al.: Gesundheit für Kinder, 2. Auflage 2006, Kösel Verlag München |